Technische Trenszendenz und Weltgewissen
Ich mag den neuen Peter Sloterdijk, der sich in seiner Essay-Sammlung Was geschah im 20. Jahrhundert? als Konservativer im ökologischen Sinne outet. In einigen Essays des Buches äußert er sich mahnend dazu, was es für uns Menschen heißt, ein ganzes geologisches Erdzeitalter als Anthropozän zu prägen oder wie kurzfristig unser Leben der Verschwendung und jenseits jeder Normalität sein dürfte.Sputnik 1: "Dawn of the Space Age" (Gregory R Todd CC BY-SA 3.0) |
Im Essay "Starke Beobachtung: Für eine Philosophie der Raumstation" (kann auch in der NZZ nachgelesen werden) bringt Sloterdijk eine unerwartete Parallele ins Spiel – die von Technik und Gott, oder genauer gesagt von Satellitentechnik und einem allwissenden, alles sehenden und am Ende jeden richtenden Gott. Sloterdijk geht darin über die bisherige Technikphilosophie hinaus, die Technik immer als Prothesen und Erweiterungen der menschlichen Sinne und Aktionsradien beschreibt. Zum einen ist die Raumstation keine bloße Erweiterung menschlicher Fähigkeiten oder ein Vordringen in neue Räume, sondern ein wirklich neues Erschaffen von "Weltraum", in dem sich der Mensch aufhalten kann: "Die Einpflanzung einer Welt in ein vormaliges Nichts" (Sloterdijk, S. 179). Zum anderen ist es die erste wirklich gottgleiche Perspektive, die hier von Menschen erschaffen wird. Während sich die verschiedenen Religionen noch streiten und im Kern erodieren (Wer fühlt sich heute schon in seinem sündhaften Treiben von oben beobachtet?), "hat die Astronautik bereits eine pragmatische Form von gemeinsamer Transzendenz hervorgebracht, die alle [...] in gleichem Abstand umkreist und gleichmäßig überblickt."
"Die höheren Götter kamen in Umlauf, als es galt, die Menschen an den Gedanken zu gewöhnen, dass ihr Leben durchgehend unter der Beobachtung einer ebenso allwissenden wie allaufmerksamen Intelligenz stehe, einer Intelligenz, die zugleich die Vollmacht besitzt, jedem einzelnen Menschen post mortem die moralische Bilanz seines Handelns zu präsentieren. Alle höheren Kulturen beruhen auf der Idee, es existiere eine externe Beobachterintelligenz, die imstande sei, sämtliche Lebensvorgänge synchron zu erfassen, auch jene, die sich in der Dunkelheit des Unwissens oder des bösen Willens verstecken. Mit der Erhöhung einer göttlichen Beobachterintelligenz ging die korrespondierende Figur der beobachteten Intelligenz einher – diese nennen wir seit antiken Zeiten die Seele oder etwas moderner das Gewissen." (Sloterdijk, S. 182)
Wer denkt beim Lesen dieser Zeilen nicht an das Zusammenkommen von Orwells Dystopien mit dem, was heute durch Satelliten, GPS und Drohnen bereits verwirklicht werden kann? Mir will es in diesem Zusammenhang auch konsequent erscheinen, dass es die atheistischen Russen waren, die mit dem Sputnik 1 als erste 1957 einen Satelliten ins All schossen. Wer wenn nicht sie mussten Gott und seinen allwissenden Blick durch Technik ersetzen? Interessant ist Sloterdijks vergleichsweise positive Lesart der ebenso als "Beginn der totalen Überwachung" zu charakterisierenden Phänomene, die sich unter anderem in Formulierungen wie "alle höheren Kulturen beruhen auf der Idee, es existiere eine externe Beobachterintelligenz" zeigen. Aber angesichts unserer aufgeklärten Emanzipation muss dieser neue technische Gott uns auch erschrecken, denn wie Sloterdijk selbst schreibt:
"Wenn übrigens die moderne Welt die Religion zurückgedrängt hat, dann nicht zuletzt deswegen, weil die Einzelnen ein Recht auf Privatheit reklamierten – das heisst eine Weltform, in der selbst Gott, wenn es ihn gäbe, nur nach Aufforderung eintreten dürfte." (Sloterdijk, S. 183)
Und das nur, um nun den perfekten allwissenden und nicht mehr anzuzweifelnden Gott selbst zu erschaffen und am Himmel zu installieren? Zumindest unter der Perspektive eines neuen globalen und bei Sloterdijk auch ökologischen Rechtschaffenheit kann dieser übergöttlichen Schöpfung etwas abgewonnen werden:
"Das Weltgewissen [...] kann sich tatsächlich nur entwickeln, wenn die Autorität der exzentrischen Beobachtung stark genug wird, um ein Gegengewicht zur Egozentrik der lokalen Interessen bilden zu können. Damit gewinnt die Raumfahrt eine Bedeutung, die sich nur mit dem Drama vergleichen lässt, in dem vor drei- oder viertausend Jahren die Götter über den ersten regionalen Imperien emergierten.
Die Menschen des globalen Zeitalters schauen erneut an den nächtlichen Himmel. Sie glauben aber nicht nur, dass sie beobachtet werden, sie wissen es auch, und indem sie dieses Wissen ernst nehmen, werden sie fähig zu handeln, wie ihr Gewissen es fordert." (Sloterdijk, S. 183)
Das ist aus heutiger Perspektive – zwar werden Klimaziele inzwischen weltweit vereinbart, aber dass sie erreicht werden (wollen), ist zu bezweifeln – sehr optimistisch. Kurzfristige Interessen werden sich weiterhin in Ermangelung wirklicher Sanktionen gegen das langfristige richtige Handeln durchsetzen. Sloterdijk führt die Parallelen des göttlichen Strafgerichts weiter, das, wenn man Dante glauben möchte, die heißesten Ecken der Hölle jenen reserviert, die wider besseren Wissens nicht für das Richtige eintreten:
"Die Gewissenlosen aber müssen wissen, dass man ihre Gewissenlosigkeit schon vom Weltraum aus sieht. Es wäre falsch zu verschweigen, dass diese Bilder in einem Prozess gegen jene, die noch immer nichts wissen wollen, als belastendes Material vorgelegt werden können." (Sloterdijk, S. 183)
Nun muss sich ein Philosoph leider und zum Glück nicht an dem messen lassen, was kurzfristig eintreten wird. Vielmehr sind es langfristige Zeiträume, die hier zur Debatte stehen. Völlig abwegig ist so ein Welterhaltungsgericht ja nicht. Es gibt internationale Kriegsgerichte wie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, warum sollen wir also nicht auch internationale Gerichtshöfe für die Welterhaltung etablieren? Wie schon an anderen Stellen im neuen Buch hat sich Sloterdijk hier von Bruno Latour inspirieren lassen, der ein "Parlament der Dinge" fordert. Das sei ein Rat in dem nicht die Menschen, sondern die Nichtmenschen (sprich Pflanzen, Tiere, Berge, Seen etc.) vertreten würden, "zumal das leben der einen aufs Engste mit dem Leben oder dem Zustand der anderen verknüpft ist! Um ein Parlament der Dinge einzusetzen, müsste man im Prinzip damit beginnen, die Gebiete zu kartografieren, die sich im Konflikt befinden, eine Aufgabe, für deren Umsetzung sich viele mit mir gemeinsam engagieren." (Philosophie Magazin Februar/März 2016, S. 39, siehe auch Das Parlament der Dinge: Für eine politische Ökologie) Das ist in der Tat eine hervorragende Idee, auch weil sie so intuitiv und anschlussfähig an bestehende politische Praxen ist und daher eine Chance auf Umsetzbarkeit besteht. Satteliten, Drohnen und Raumstationen werden dabei helfen (tun sie jetzt schon zum Beispiel bei der Überwachung der Verschmutzung durch Schiffsverkehr).
Bis aber all das in seiner Totalität umgesetzt und vernetzt ist (was aus anderen Gründen auch beängstigend ist), hilft vorerst nur weiter ans altmodische Gewissen zu appellieren und die Gesetze anzuwenden, die heute schon die Interessen der Nichtmenschen (und daher auch der Menschheit) vertreten. Gut ist es allemal, dass Philosophen wie Sloterdijk und Latour solche Ausblicke bieten und theoretisch und praktisch an der Erlebbarkeit der Zukunft arbeiten.
Das passt dazu:
- Sind wir böse? Sind wir dumm? Ist das dasselbe?
- Die Welt wird gut und wir merken es nicht
- Der finstere Berg
Liest sich gut, klingt aber trotzdem wie eine Utopie. Zwar müssen jetzt langsam "utopische" Massnahmen ran, um die mit rasender Geschwindigkeit voranschreitende Zerstörung aufzuhalten, aber: Welche Utopien reussierten denn in der Vergangenheit?
AntwortenLöschenDas wäre doch eine spannende Untersuchung.
Umgesetzte Utopien, in großem Maßstab?
Immer wieder denke ich an einen Alptraum zurück, den ich mal hatte: Ein rehähnliches Tier wurde von hinten von einem Löwen angegriffen. Es hatte keine Chance. Satt wie sich wie wild (und natürlich ergebnislos) zu wehren, fraß es weiter Gras, als wäre es das Wichtigste auf der Welt. Ignoranz, weil eh nix geht.
Gerhard
Du brauchst nicht lange nach einer umgesetzten Utopie im großen Maßstab zu suchen. Das nämlich, was vor Dir steht und liegt, was wir heute so lapidar „Menschheit“ und „Welt“ nennen, ist die reine Utopie im übergroßen Maßstab. Manche nennen es Evolution oder Kreation, vermeiden peinlichst das Wort Utopie, um ihren „Stall“ als seriöse Erklärung aufzuwerten.
LöschenAuch Dein und mein Leben ist bis heute eine umgesetzte Utopie. Wir waren mal noch nicht, wurden aber. Wurden etwas "Unglaubliches". Das wurden wir durch einen hohen Anteil Schlaf. So verschlief ich den 1. und 2. Weltkrieg, den Holocaust, die beiden Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Als ich dann aufwuchs, musste ich spät erfahren, dass es parallel zu mir schon soviel sich ereignet hatte, von dem ich erst spät etwas erfuhr: die Wiederbewaffnung der Bundeswehr, den Koreakrieg, der fast dritte Weltkrieg durch die Ost-Westspannungen usw. Nun aber bin ich aus dieser Utopie aufgewacht und ich weiß nicht mehr: bin ich ein schlafender Utopist oder ein utopischer Schläfer? Man hatte mir doch ursprünglich zugesagt, die Welt sei ein Gedicht und ich darin ein Buchstabe, der nicht fehlen dürfe. Dann las ich die ersten Strophen des Weltgedichts und tatsächlich: Die Welt war ein Gedicht: Nichts reimte sich für mich. Auch hatte ich im Wachzustand verschlafen, dass „Gott todt ist“.
So musste ich vom Start weg die seit 2500 Jahren laufenden Züchtigungen des Herdentiers über mich ergehen lassen, nur um nicht auf den Gedanken zu kommen, das Ganze sei nur eine Deckadresse für das "Nichts" von allem. Aber nicht ein Nullum als Nichts, sondern Nichts Besonderes, kein schon festgelegtes, sondern ein auch von mir zu fütterndes Noch-Nichts, das dann eben Etwas mit meinem Buchstaben im Gedicht werden könne. Das entfachte dann auch in mir 1000 Utopien. Bald lernte ich dazu, dass man die meisten besser nicht sofort verkündet.
Dann nämlich melden sich die Vormächte mit ihrem bewahrenden Besitzstand ihrer Utopien, die sie aber zu Tarnung in den schillerndsten Tönen als "das Rationale" „das Realistische“, „das Praktische“, „das Vernünftige“, „das Bewährte“, „das Naheliegende“ etikettierten und meine "Utopie" damit in den „Himmel der Wünsche“, in die Ecke des „jugendlichen Leichtsinns“, der „Unausgewogenheit“ eben „als Utopie“ klassifizierten. Das alles waren im Klartext Todesurteile, meistens mit einer zynischen Unterschrift:
gez. Dr. „Warte bis du groß wirst“, oder Dein „das wächst sich noch aus“.
Also: Werde oder bleibe Utopist. Du bist in bester Gesellschaft. Aber bitte geselle Dich nicht zu den Verbitterten oder Gnadenlosen. In Deiner Forderung „Zwar müssen jetzt langsam "utopische" Maßnahmen ran, blinzelt so etwas rigoros ungeduldiges durch. Das ist gut nachzuvollziehen angesichts aller Zustands-Indikatoren. Vielleicht nimmt Dir und mir das alles ja eine „Große Krise“ ab. Denn diesen „Diktator“ müssen wir annehmen, nur der „glauben“ dann auch die Vormächte - irgendwann.
Erst wenn der letzte Baum gefällt, die letzte Insel unter Wasser steht, die ersten Häuser schwimmen, der letzte Damm gebrochen, der letzte Fluss vergiftet, saubere Luft nur über Filter kommt, das letzte Tier getötet, die letzte Art ausgestorben ist, der erste Weltraumschrott auf den englischen Rasen fällt, erst dann werden sie merken, dass man Geld nicht essen kann und noch mehr Geld nichts mehr verhindern wird.
Aber vielleicht haben wir bis dahin eine resistente DNA. Gene gezielt ausschalten, reparieren oder ersetzen: Eingriffe in die Erbsubstanz sind einfacher geworden. Aber wir beide werden das wohl nicht mehr erleben. Diese Utopie tragen dann andere weiter. Interessanter sind ja die nächsten Generationen. Wie werden die leben? Sicher immer noch utopisch. Wenn nicht, dann werden sie auch ihren Namen ändern müssen. Vielleicht nennen sie sich dann SAPler oder Googlejaner mit Gendefekt: Ihnen fehlt das Utopie-gen. Dann werden sie sagen: Früher war alles besser.