Ein philosophisches Magazin zur Krise als Normalzustand
Die Krise hätte eine Chance sein können, endlich einen gesellschaftlichen Wandel hinzubekommen - weg von Profitmaximierung, Geldfetischismus und Raubtierkapitalismus. Bisher wurde sie nicht genutzt, von vielen vielleicht nicht einmal als solche erkannt.Sprechen so Ökonomen? Ja, zum Beispiel Wolfram Bernhardt vom philosophischen Wirtschaftsmagazin agora42. Philosophie und Wirtschaft? Sind das nicht zwei gänzlich verschiedene Sphären? Bei der deutschen Bank schon, das ist ja das Problem. Nicht aber, wenn man zurückdenkt an die Agora, dem Marktplatz der antiken Stadt, auf der sich Händler, Hausfrauen, Landstreicher und Philosophen über den Weg liefen und ins Gespräch kamen. Wie kann man sich eine Agora, auf der unterschiedlichste Themen und Menschen zusammenkommen, heute vorstellen?
Jeder Goldrausch geht einmal zu Ende (Bildlizenz: CC0 Public Domain) |
Frank Augustin und Wolfram Bernhardt, ein Philosoph und ein Ökonom, geben zusammen mit Nazim Cetin und Richard David Precht vier Mal im Jahr die agora42 heraus. Das ist für sie nur der erste Schritt zum Bau einer Plattform, einer richtigen Agora.
"Wir wollen vor allem einfach erklären und über die Grundannahmen unseres ökonomischen Verständnisses reflektieren," sagt Wolfram Bernhardt. Früher ging es darum, welches Gesellschaftssystem dient dem Mensch am besten? Heute fragt man sich: Wie dient der Mensch am besten der Ökonomie? Mir geht es im Kern wieder um den Mensch." Und Frank Augustin meint: "Es geht darum, Gewohnheiten sichtbar zu machen. Solange bestimmte ökonomische Modelle oder Handlungsprinzipien gut funktionieren, ist es vollkommen okay, wenn man sich an sie hält. Wichtig ist nur, dass man nicht aus Denkfaulheit den Bodenkontakt verliert. Wenn gewohnte Denk- und Handlungsweisen in den Rang höherer Wahrheiten erhoben werden, beginnen die Probleme." (agora42, 04/2014, S. 52)
Diese Wahrheiten gibt es nicht. Vielmehr gibt es gesellschaftliche und private Überzeugungen und Handlungsweisen, die jederzeit veränderbar sind und dort scheint das Magazin anzusetzen. "Ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus," wird Hegel auf der Internetseite von agora42 zitiert. Zu dieser Revolution der Grundgedanken gäbe es keine Alternative. Wachstum, Wohlstand und Fortschritt hätten als Leitbegriffe ausgedient.
"Die soziale Marktwirtschaft ist zur hohlen Phrase verkommen. Was bedeutet denn heute noch 'sozial'? Wirklich hilfsbereite Menschen haben es immer schwerer. Man müsste das engmaschige soziale Geflecht - Stichwort Ökonomisierung aller Lebensbereiche - erst mal aufbrechen, damit sich wieder ein Verständnis des sozialen etablieren kann." (Augustin, agora42, 04/2014, S. 54)
Die Vorboten sind lange da: Ich selber kenne kaum Leute, die nicht der Meinung sind, dass sich etwas grundlegend ändern muss. Das fängt beim eigenen Burn Out an und hört beim Ukraine Konflikt, der Euro Krise und Fukushima noch lange nicht auf. Jeder steht doch gerade irgendwie neben sich und schüttelt den Kopf über diese von alten Vorstellungen getriebenen alten Männer, die unsere Welt bisher regieren. Ratlosigkeit herrscht noch, was nun eigentlich zu tun sei. Aber diese Ratlosigkeit ist besser, als die oben zitierten "höheren Wahrheiten". Wir können Machthaber, Magnaten und Mutti nicht ändern, aber wir werden sie ersetzen. Und damit die kommenden Wechsel sinnvoll sind, ist es notwendig, sich ein paar Gedanken zu machen.
Ich wurde auf agora42, das es nun schon fünf Jahre gibt, selbst erst vor kurzem aufmerksam gemacht. Das heißt auch, dass dieses Magazin durchaus noch mehr Aufmerksamkeit vertragen kann. Um ehrlich zu sein, war ich sehr erstaunt, dass es das in dieser philosophisch-ökonomischen Verbindung in Deutschland gibt. Auf den zweiten Blick, wenn ich überlege, wie sehr jedes individuelle Leben von den wirtschaftlichen Rahmenbedigungen abhängt, finde ich diesen Zusammenhang allerdings zwingend. Auch Frank Augustin meint, dass wir seit Ausbruch der Finanzkrise unsere Sinn- und Orientierungslosigkeit durch fleißige Arbeit und Anpassung ans Notwendige kompensiert hätten und uns darum physisch und psychisch oft komplett am Limit bewegten. Wenn das in der Tat ein witgefühlter Zusammenhang ist, dann stellt sich die Frage:
"Wie kommt es, dass viele den Unsinn ihres Tuns begriffen haben und dennoch ihre Erkenntnisse von ihrem persönlichen Leben abkoppeln?" (Bernhardt, agora42, 04/2014, S. 55)
Sicher ist es oft Trägheit, oder das was Augustin und Bernhardt "Heimat" nennen. Wir sind schlecht darin, das aufzugeben (sei es ein Haus, eine Arbeit oder ein Gedankengebäude), was uns bisher Sicherheit gegeben hat. Vielleicht kneifen alle auch nur die Arschbacken zusammen und hoffen, dass sie verschont bleiben und dass die paar Rentenfonds reichen werden, um später der Altersarmut zu entgehen. Das ist jedenfalls so ein bisschen das, was ich mir in schwachen Momenten denke. Und das, obwohl ich selbst schon zwei Währungswechsel erlebt habe und daher wissen müsste, wie bedeutungslos am Ende das Materielle sein kann, für das man sich jahrelang den Arsch aufgerissen hat. In diesem privat-wirtschaftlichen Verhalten finden wir viel Spieltheorie, also die "gefühlt vernünftigen" Annahmen und Schlussfolgerungen, die auch der Makroökonomie zugrunde liegen und die man mit den klassischen Mitteln der Philosophie (Logik, Reflexion, Ethik) auf ihre Konsequenzen hin untersuchen muss. Und wenn ich Konsequenzen sage, dann meine ich damit analog der 11. Feuerbachthese ein aus den Erkennnissen folgendes anderes Handeln.
Wirklich erfrischend ist, dass agora42 ihre eigene momentane Ratlosigkeit gar nicht verstecken wollen. Sie wissen nicht, was wir nun tun sollen. Sie experimentieren mit Gedanken und haben keine Angst, das Alte schon mal gedanklich abzuschaffen, bevor man überhaupt nur eine Ahnung haben könnte, wie das Neue aussehen soll. Eines jedoch wird deutlich: Die Wirtschaft, den Markt gibt es nicht, wir sind der Markt, der Staat. Auf uns kommt es an: "Wir sind doch darin frei, unsere Ordnungen, Systeme und Zwänge selbst zu wählen!" (Augustin, agora42, 04/2014, S. 54) Wir können auch entscheiden, was wir zum Markt machen, was uns wichtig ist, wofür wir Geld ausgeben und Zeit investieren wollen. Das Magazin kämpft gegen eine gewisse Markthörigkeit, die Vorstellung von Wirtschaft als Naturgewalt und gegen die Abgabe der Verantwortung am Bankschalter oder am Fernsehgerät. Ohne die Bewusstwerdung der eigenen Macht über Wirtschaft und Politik wird jede große Veränderung zu einem Besser hin unwahrscheinlich. "Der Markt ist tot" wäre der nächste große Schlag für einen Philosophen mit Hammer.
Das sollte Sie auch interessieren:
Der Markt lebt.
AntwortenLöschenWas ist überhaupt der Markt im ökonomischen Sinn? Der Markt beschreibt die soziale Verhaltensweise des Tauschens, d.h. Angebot und Nachfrage treffen aufeinander. Du gehst zum Bäcker und kaufst Brötchen. Das ist Markt. Du gehst auf Arbeit und bekommst Gehalt oder Du bekommst Geld, weil ein Nutzer Affiliate-Links auf Deinem Blog anklickt, auch das ist Markt. Der Markt im ökonomischen Sinne ist kein System, keine Ordnung, kein Zwang oder was auch immer.
Wenn wir alle komplett autark leben, dann ist der Markt tot. Die Wahrscheinlichkeit dafür würde ich mal eher gering einschätzen.
Dann gibt es noch die "Marktwirtschaft". Die Marktwirtschaft als Wirtschaftssystem beschreibt aber letztlich auch nur die Situation, in der Individuen - in einem recht großen Maße an Freiheit - miteinander tauschen dürfen, ohne dass der Staat das "Was", "Wie" und "Wo" reguliert. Insofern bedeutet Marktwirtschaft zunächst einmal Freiheit.
Und diese Freiheit ist ja auch nicht universal: Sie wird beschränkt durch unsere demokratische Grundordnung, sowie um bestimmte soziale Maßnahmen ergänzt. Natürlich kann man trefflich über das Ausmaß dieser Regulierung diskutieren, ich sehe aber tatsächlich keinen Grund oder Argument der dabei Freiheit (und das ist hier gleichbedeutend mit der Existenz von Märkten, da Menschen nunmal tauschen) ernsthaft in Frage stellt.
Irgendwer hat mal auf die Frage "Was ist wichtiger: Freiheit oder Gleichheit?" geantwortet, dass die Freiheit wichtiger sei, denn ohne die Freiheit wird die Ungleichheit nur noch größer. Das finde ich - auch wenn man einmal in die aktuelle Welt oder in die Geschichte schaut - sehr überzeugend.
Noch ein abschließender Schwenk in Richtung aktuelle Politik und "Krise":
Märkte haben schon ganz andere Krisen überlebt und gerade die ganze aktuelle Eurokrise ist m.E. vor allem "zu wenig" Markt(spielraum) geschuldet, als zu viel Markt. Ganz Südeuropa würde es ohne den Euro deutlich besser gehen als ohne: Weniger Schulden (ohne Euro hätte Griechenland nie soviele Kredit bekommen wie es derzeit hat) und prosperierendere Wirtschaft (und sei es durch die Abwertung der eigenen Währung). Aber diese Möglichkeiten fehlen diesen Ländern, da sie im Korsett der EU genau diese eigenen Freiheiten zur Wechselkursgestaltung, Finanz- und Wirtschaftspolitik aus der Hand gegeben haben. Die Gründungsväter der Eurozone haben schlichtweg die Vorteile der "Freiheit" im Vergleich zu starren Systemen unterschätzt.
Aus diesem Grund wünsche ich mir zum Wohl aller ganz sehr einen lebendigen Markt, denn ohne Markt und Marktwirtschaft bekommen wir ein echtes Problem.
Ich hoffe, das Augenzwinkern in der Parallele zu Nietzsches "Gott ist tot" ist in "'Der Markt ist tot' wäre der nächste große Schlag für einen Philosophen mit Hammer" deutlich geworden. Falls nicht: So wie "Gott" kann natürlich auch "der Markt" nicht sterben. Wir sollten uns nur mehr Mühe geben, den Markt zu gestalten, den uns und unseren Werten angemessen ist.
LöschenGehaltvoller als so ein Eyecatcher finde ich das Statement "Die soziale Marktwirtschaft ist zur hohlen Phrase verkommen. Was bedeutet denn heute noch 'sozial'? Wirklich hilfsbereite Menschen haben es immer schwerer. Man müsste das engmaschige soziale Geflecht - Stichwort Ökonomisierung aller Lebensbereiche - erst mal aufbrechen, damit sich wieder ein Verständnis des sozialen etablieren kann."
Viele Grüße!
Ok - ich gebe zu, dass mir das Augenzwinkern dabei entgangen war. Man hört und liest ja vieles heutzutage. Aber ein guter Eyecatcher - definitiv :). Und da der Markt existiert (zumindest mit recht hoher Gewissheit), könnte diese Existenz ja theoretisch auch aufhören und der Markt "sterben".
LöschenDer von Dir zitierte Satz ist sicher gehaltvoller, aber aus meiner Sicht absolut daneben. Ich verstehe echt nicht, wer so etwas ernsthaft - und dann noch in Deutschland - behaupten kann.
Wo haben es denn hilfsbereite Menschen immer schwerer?
Und den den letzten Satz verstehe ich (wenn überhaupt) dann ja wohl so: Lasst uns mal alle sozialen Systeme aufbrechen (klingt schon nach abschaffen, oder?), damit sich wieder etwas "wirklich Soziales" etablieren kann. Sorry, aber das klingt für mich nach ziemlich verworrenem, realitätsfernem Nonsense. Oder was ist da gemeint?
Ohne, dass ich jetzt auf alles antworten will und kann, hier Beispiele, die mich denken lassen, dass das "Aufbrechen der Ökonomisierung aller Lebensbereiche" bedenkenswert ist: Für Systeme wie das Gesundheitswesen, Wohnraum oder Bildung (um nur einige zu nennen), ist der Markt oder eine Durchökonomisierung nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss. Im Gegenteil, es zeigt sich, wie kontraproduktiv hinsichtlich des Schutzes von Leben, aber auch des Fortschritts (Bekämpfen von Krankheiten und Epidemien in armen Ländern) solch ein Markt sein kann. Weiterhin habe ich große Zweifel, dass die Privatisierung (Vermarktung) all der kommunalen Versorgungsstrukturen eine gute Idee ist. Ich will das nicht weiter ausführen, weil es mich langweilt, solche offensichtlichen Dinge zu besprechen.
LöschenRealitätsfern ist keine Kategorie, die einfach so für sich Bestand hat, da müsstest du schon konkreter werden.
"Ich verstehe echt nicht, wer so etwas ernsthaft - und dann noch in Deutschland - behaupten kann." Verstehen ist nichts, was einem zustößt, sondern etwas, das man aktiv herbei führen muss.
Ich glaube wir reden grad etwas aneinander vorbei:
LöschenUm das zu vermeiden, will ich kurz sagen, wie ich o.g. Begriffe und Zitate verstehe. Ich nehme an "mit sozialem Geflecht" sind vorrangig die staatlichen Sozialsysteme aber auch Einrichtungen (inkl. Infrastruktur) gemeint und "Ökonomisierung" bezeichnet hier, dass man einem freien Markt die Gestaltung dieser Dinge überlässt. (Was genau der anschließende Einwurf "Stichwort Ökonomisierung..." dann genau meint habe ich in dem Kontext nicht wirklich verstanden.).
All diese sozialen Systeme/Einrichtungen in Deutschland sind meiner Meinung nach Lichtjahre von einem freien Markt entfernt. Das zeigt sich einerseits in den Akteuren (Bildung, Infrastruktur - wieviele private Betreiber Bildungseinrichtungen oder von kommunaler Infrastruktur gibt es denn im Vergleich zu den staatlichen Organisationen?) aber auch in dem rechtlichen Rahmen, in dem sich die Akteure bewegen: Sowohl der Gesundheitsbereich (ob Krankenkassen, Arzneimittelzulassung, Werberestriktionen,....), Wohnraum (extrem Mieterfreundliches Mietrecht, Mietpreis-Regulierung durch Mietspiegel, öffentliche Wohnungsunternehmen,...) als auch die Infrastrukturen (hier bestimmen im Übrigen die Kommunen ganz genau den Rahmen, in dem sich private Betreiber bewegen können) sind in höchstem Maße reguliert.
Das meine ich mir realitätsfern.
Wo ich dir recht gebe, ist das Beispiel mit Krankheiten/Epidemien in armen Ländern, da wird wohl eher zu wenig reguliert. Allerdings fehlt es dort oftmals überhaupt an funktionierenden, staatlichen Organen - wer also soll da regulieren?
Ich stimme zu, dass bestimmte Lebensbereiche aufgrund unserer Vorstellungen von einer guten, menschenwürdigen Welt der Regulierung bedürfen. Über das Aussmass dieser Regulierung kann man auch trefflich diskutieren. Aber von einer Ökonomisierung wie von mir oben definiert, sind all diese Dinge in Deutschland (und in weiten Teilen Westeuropas) ganz weit weg.
Ökonomisierung bedeutet letztlich Freiheit. Und man sollte schon sorgsam nachdenken, bevor man die Freiheit einschränkt (was durchaus notwendig ist). Und wenn das schon notwendig ist, stellt sich bei mir immer noch die Frage: Reicht eine Regulierung des Rahmens (Gesetze etc.) oder muss der Staat auch noch selbst Akteur werden?
Bei vielen Warnungen vor der Ökonomisierung klingt für mich immer eine irrationale Staatsgläubigkeit durch. Woher kommt dieser der Glaube, dass der Staat, in dem er selbst bestimmte Aufgaben übernimmt, ausführt oder besonders exzessiv reguliert, es tatsächlich besser kann? Ich sage nur Stichwort Bankenkrise: Wen hat es am ärgsten in Deutschland erwischt? Das waren WestLB, SachsenLB und BayernLB.....
Absolut, sollte schon sorgsam nachdenken, bevor man reguliert... Ich suche gerade eine Wohnung in Berlin und ich sage dir: Der Markt ist alles andere als "stark reguliert". Hier gibt es eine enorme Verdrängung von Bürgern (die auch an der "Freiheit" partizipieren sollten) durch extreme Sanierungen und unglaubliche Mietpreise. Solche Beispiele zeigen doch, dass wir uns fragen müssen: In welcher Welt wollen wir leben? Wie sollen unsere Städte und ihre Bevölkerungen aussehen? Wollen wir wirklich die "Freiheit des Marktes" im Munde führen, wenn diese Freiheit der wenigen (mit Immobilienbesitz) zu einer Unfreiheit der vielen (die die Preise nicht zahlen können) führt?
LöschenUnd wenn wir uns diese Fragen stellen und dementsprechend regulieren, dann sind wir doch nicht staatsgläubig, sondern wir sind selbst der Staat. Auch das ist unsere Freiheit. Darum geht's mir am meisten: Nicht von Freiheit labern, sondern sie begreifen und gestalten.
Ökonomisierung bedeutet nicht Freiheit. Die Details der Ausgestaltung bestimmen darüber, ob es sich in Freiheit übersetzt und für wen eigentlich.
Das ist doch ein schönes Beispiel, zumal ich den Wohnungsmarkt in Berlin auch etwas kenne (habe selbst vor 7 Jahren dort gewohnt - zugegeben, das ist lange her - aber meine Frau hat bis vor 1,5 Jahren dort gewohnt).
LöschenIch denke schon, dass man in Berlin schon preisgünstig wohnen kann, aber eben nicht in den Trend-Bezirken und vielleicht auch nicht ganz so billig wie in Leipzig. Dafür ist aber auch das Einkommensgefüge etwas höher. Schau halt mal nach günstigen Wohnungen in Schöneberg oder Spandau und nicht nur in Friedrichshain oder Kreuzberg :)
Es ist doch nicht so, dass sich Leute in Berlin keine Wohnung leisten können. Es ist eben nur die Frage, was für eine Wohnung das ist und wo diese liegt. Ausserdem muss auch nicht jeder in Berlin wohnen - Du ziehst ja auch freiwillig dort hin.
Aus meiner Sicht - andere mögen es anders sehen - müssen eben nicht alle in Innenstadt-Bezirken wohnen können. Freiheit bedeutet doch nicht, dass alle Mercedes fahren.
Klar müssen wir uns fragen, wie unsere Städte aussehen sollen. Aber müssen wir als Staat denn für alles mögliche wirklich zusätzliche Regulierungen erfinden? Die Frage ist doch: Wollen wir wirklich noch mehr Bürokratie und Regulierung? Können wir die resultierenden - oftmals ungewollten - Nebeneffekte überschauen?
In den neuen Bundesländern wurde vielfach nach der Wende mit vielen Fördermitteln Wohnungen saniert. Eine ganz hübsche Anzahl dieser Gebäude wurde dann etwas später - aufgrund von Bevölkerungswanderungen leerstehend - ebenfalls mit staatlichen Fördermitteln (für den Abriss!!) platt gemacht, um den Leerstand zu verringern....
Und zum Thema extreme Sanierungen: Ich kenne auch Leute, die in Trendvierteln (Kreuz-Kölln)im unsaniertem Altbau (Ofenheizung, Uralt-Fenster) als 3 Personen-Haushalt 170 m² für 500 € Miete bewohnen. Klar würden die sich nach einer Sanierung ziemlich umgucken, was das kostet und könnten sich das vielleicht nicht mehr leisten. Aber das finde ich per se nicht schlimm, auch wenn es für die Betroffenen nicht schön ist.
Sollen wir dem Hauseigentümer verbieten, sein Haus auf ein zeitgemäßes Niveau zu bringen und dafür auch eine höhere Miete zu verlangen?
Die derzeitige Regulierung ist doch schon so, dass ein Immobilieneigentümer die Miete nur erhöhen darf (und dann auch nur in einem bestimmten Rahmen), wenn er saniert, d.h. eine bessere Wohnung bietet. Der Mietpreis kommt doch nicht durch freies Angebot und Nachfrage zustande! Das finde ich schon stark reguliert - du magst es anders sehen.
Zum Thema Unfreiheit der Vielen zu Gunsten der Freiheit der Wenigen: Hier ist auch mal interessant, dass bspw. in Großbritannien bei einer viel höheren Wohneigentumsquote (>70% vs. Deutschland mit ca. 40%), hier sind also die Wohneigentümer die Vielen, weitaus höhere Mietpreise herrschen als in Deutschland (trotz weniger Miet-Regulierung in UK).
Um die - durchaus spannende - Diskussion mal auf den Ausgangspunkt zurückzuführen:
LöschenMir geht es primär darum, solch pauschale Aussagen wie "Die soziale Marktwirtschaft ist zur hohlen Phrase verkommen." bzw. den Tenor obiger Zitate, dass das Soziale ist so gering ausgeprägt bzw. unzureichend ausgeprägt sei, dass es seinen Namen nicht verdient, zu kritisieren.
Und ich denke, die Berechtigung dieser Kritik hat unsere anschließende Argumentation - trotz der unterschiedlichen Standpunkte - belegt.
Danke für die Tipps zum Berliner Wohnungsmarkt :) Ich bin ja selbst Berliner, habe die meiste Zeit meines Leben dort verbracht und kann daher die Situation ganz gut einschätzen. Es geht mir nicht um mich selbst, denn ich könnte mir auch die Szenebezirke leisten, wenn ich wollte. Aber dort suche ich gar nicht. Und es geht auch nicht darum, dass alle Mercedes fahren sollen. Solche Hnweise tun nichts zur Sache.
LöschenIch habe auch sechs Jahre in Dublin gelebt, wo die "Eigentümer"-quote (meistens sind Banken die längste Zeit Eigentümer, die Bewohner sind oft Kreditnehmer) ähnlich ist wie in UK. Das nun wiederum ruft ganz neue Unfreiheiten für viele auf den Plan. Bis hin zur Immobilienblase. Das ist auch eine schöne Freiheit, wenn die Banken allen Kredite geben, wohl wissend, dass diese niemals abbezahlt werden. Aber dafür gabs ja den sub-prime market.
Es ist jedenfalls eher Unfreiheit als Freiheit, wenn Menschen aus ihren angestammten Wohngegenden verdrängt werden, weil sie diese nicht mehr bezahlen können. Wir sollten auch aufhören, so zu tun, als wäre Regulierung unbedingt eine Freiheitseinschränkung. Es geht ja nicht darum, einzelnen Immobilienbesitzern das Erhöhen von Mieten zu verbieten, sondern darum z.B. durch regulierten Verkauf, durch Genossenschaften oder den Bau von Sozialwohnungen, dafür zu sorgen, dass Städte und Bezirke für alle Bürger da sind und nicht nur für die vermögenden.
Für mich zeigt das unter dem Strich, dass sich der Freiheitsbegriff nicht einfach holzschnittartig auf irgendein Wirtschaftssystem anwenden lässt. Es kommt immer auf die Details an. Freiheit zu was? Freiheit von was? Freiheit für wen? Man müsste also tiefer in die Begriffe einsteigen und würde dann wahrscheinlich feststellen, dass man nicht so pauschal sagen kann: "Ökonomisierung bedeutet Freiheit."
Wusste gar nicht, dass Du Berliner bist - da bin ich jetzt etwas ins Fettnäpfchen getreten :)
LöschenDie Frage "Was verstehen wir unter Freiheit?" sollten wir zumindest grob klären. Für mich ist Freiheit in diesem Kontext recht simpel: Ich mache mit Dir aus, was Du mir für meine (oder ich Dir für Deine) Wohnung an Miete zahlst. Werden wir uns nicht einig, dann werden wir wohl nach anderen Mietern/Vermietern suchen müssen.
Diese "Markt-Situation" ergibt sich ganz natürlich aus dem sozialen Zusammenleben von Menschen. Alles was dich oder mich dabei einschränkt ist (völlig wertfrei, aber definitiv Freiheitsbeschneidend) Regulierung. Insofern finde ich den Begriff Ökonomisierung auch irreführend, da dieser immer so klingt, als würde da künstlich etwas in das soziale Leben eingeführt, was es dort normalerweise gar nicht gäbe.
Ich bin auch überzeugt, dass es in Deutschland kaum eine Stadt gibt, die nur für Vermögende da ist - aber selbst wenn es das vereinzelt gibt, wäre das schlimm? Ich muss nicht auf Sylt wohnen. Insofern bin ich auch der Meinung, dass nicht jeder Bezirk für alle Bürger da sein muss. Interessant ist doch auch: Gerade die Marktkräfte steuern ja auch gegen solche Konzentrationen. Sonst würden doch eben gerade nicht diese "armen" Bezirke jetzt so boomen, sondern die klassisch wohlhabenden Bezirke a la Charlottenburg und Co. würden immer teurer werden.
"wenn Menschen aus ihren angestammten Wohngegenden verdrängt werden" - klar das klingt dramatisch - aber ist es das denn wirklich? Sollten wir tatsächlich unsere Energie darauf verwenden den materiellen Status Quo des Einzelnen festzuhalten? Ist es denn so schlimm wenn jemand, wegen steigender Preise (die ja durchaus nicht so einfach erhöht werden können aufgrund des Mietrechts) umziehen muss? Dieses Festhalten hat für mich wenig mit Freiheit zu tun. Und wir reden hier ja nicht davon, dass jemand dadurch in menschenunwürdige Verhältnisse gezwungen wird.
Machen wir uns nichts vor: Alle Energie und (unser aller) Steuergeld, was dafür verwendet wird, steht dann erstmal für andere Dinge nicht zur Verfügung. Und auch im Sozialen gibt es da m.E. deutlich wichtigere Einsatzgebiete (Bildung + Wissenschaft, Gesundheit, Armutsbekämpfung, Wirtschaftsförderung), auf die wir uns konzentrieren sollen.
Was mir dazu ausserdem grad zum Thema einfällt: Ich glaube die Deutschen haben schon ein sehr spezielles Verhältnis zu ihrem Wohnraum. Insbesondere im angelsächsischem Raum scheint mir Umziehen - trotz Wohneigentum - deutlich populärer.
Das Format "Printmagazin" scheint mir heute nicht das Hinreichende, wenn man wirklich etwas beitragen will...
AntwortenLöschenJa, guter Punkt... Oben steht "Das (Ptintmagazin) ist für sie nur der erste Schritt zum Bau einer Plattform, einer richtigen Agora." Wie es dabei weitergeht, werde auch ich mit Spannung verfolgen.
Löschen