Worin besteht unsere Freiheit heute und wodurch ist sie bedroht?
Es ist ganz klar, dass wir politisch-gesellschaftlich gesehen in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte hin zu freiheitlichen Gesellschaften gemacht haben. Das gilt besonders für Europa und Nordamerika, aber in der Tendenz auch auf der ganzen Welt. Nicht zuletzt durch technologische Entwicklungen, wird es in einem globalen Dorf für totalitäre Regime und Despoten immer schwerer, den Austausch von Informationen zu kontrollieren und die Völker dumm und beherrschbar zu halten. Solche globalen Entwicklungen dauern aus der Perspektive eines Menschenlebens sehr lange; man erinnere sich, wie viel Zeit zwischen dem Beginn des Buchdrucks und Kants aufklärerischem Aufruf, die selbstverschuldete Unmündigkeit endlich abzulegen, vergehen musste. Also sollten wir vielleicht nicht allzu ungeduldig werden und erwarten, dass aus einer sogenannten Facebook-Revolution gleich eine freiheitliche Demokratie per Gefällt-mir-Button wird. Die wahren Fronten müssen über lange Jahre hin verhandelt und überwunden werden. Und wie ist es mit unserer individuellen Freiheit? Sind wir frei, weil uns niemand beherrscht und wir in jeder Hinsicht eine endlose Auswahl an Möglichkeiten haben?
Endlose Auswahl: Die Freiheit des Bürgers als Konsument (von Lyza via Flickr) |
Die moderne Tragik der Freiheit
Im neuen Philosophie Magazin, dessen Titelthema die Freiheit ist, gibt es ein Gespräch zwischen der Schriftstellerin und Philosophin Thea Dorn und dem Berliner Philosophieprofessor Byung-Chul Han über die moderne Freiheit unserer westlichen Gesellschaft. Die beiden sind sich darüber einig, dass eine gewisse Tragik in diesem modernen Liberalismus steckt. Thea Dorn formuliert das so:In dem Maße, in dem Generationen tatsächlich immer weniger in hierarchisch gegliederten Familien oder Systemen aufwachsen, in dem religiöse Systeme ihren unterdrückenden Einfluss verlieren, in dem der Einzelne in freiere Verhältnisse geboren wird, entsteht das Paradox, dass dieser Einzelne mit seiner Freiheit nichts Rechtes mehr anzufangen weiß.*
Gemeint ist, dass wir zum einen - und das gilt ganz besonders für alle, die nach dem europäischen Sozialismusexperiment geboren sind - Freiheit nicht mehr erkämpfen müssen und es daher schwerer fällt, diese Freiheit schätzen zu lernen. Es gibt diesen Hunger nach Freiheit, den ich aus meiner Jugend kenne, gar nicht mehr. Denn die Freiheit war immer schon da. Zum anderen schlägt die Freiheit in ihr Gegenteil um, wenn sie vor allem für uns bedeutet, endlos viele Wahlmöglichkeiten zu haben. Das paralysiert uns, wir kapitulieren vor den zahllosen Möglichkeiten und verharren dort, wo es den geringsten Widerstand gibt. Wir verharren aber nicht ohne Schuldgefühle, denn schließlich wissen wir, dass wir all die Möglichkeiten ungenutzt lassen und dass wir uns immer weiter optimieren müssten, um uns auch zukünftig alle Optionen offen zu halten. Byung-Chul Han beschreibt das mit dem Bild des Individuums als Projekt:
Das alte Subjekt hatte ein Gegenüber, dem es unterworfen war [...] Freiheit im Zeitalter des Subjektes bestand darin, diesem Gegenüber Widerstand zu leisten. Heute sind wir nicht mehr dieses Subjekt. Den neuen Typus von Mensch nenne ich Projekt. Das Negative des Gegenübers ist nicht mehr da, das Projekt findet sich in einem total leeren Raum, es muss sich in diesem leeren Raum erfinden.
Das führe dann dazu, dass jeder ein "Unternehmer seiner selbst wird und niemand einem Chef unterworfen ist" und sich daher ständig neu erfinden und optimieren muss, um in der Gesellschaft konkurrenzfähig zu bleiben. Da ist sicher etwas dran, besonders wenn man es wie in einem Reagenzglas betrachtet wie Han es hier tut. Aber ein Glück leben wir nicht in idealisierten Laborumgebungen, sondern haben durchaus unsere Zwänge im Leben, gegen die wir unsere Freiheit behaupten müssen: Das fängt in der Kindheit an, wenn man sich am Tisch benehmen muss, wenn man in die Schule gehen und still sitzen muss und hört im Erwachsenenleben noch lange nicht da auf, dass die meisten von uns eben doch noch einen Chef haben, gegen und für den wir unsere eigenen Freiräume schaffen müssen.
Von der Schwierigkeit, unsere Freiheit zu nutzen
Es ist schon so, dass durch diese relative Freiheit und die vielen Möglichkeiten im Leben ein Zwangsgefühl entstehen kann, dass sich bei vielen darin äußert, dass sie vom Überangebot der Möglichkeiten gestresst und paralysiert sind und das Gefühl haben, sich nicht auf ein großes Thema im Leben konzentrieren zu können, sondern sich ständig weiter entwickeln, weiter lernen zu müssen. Aber diese Unfähigkeit mit Freiheit umgehen zu können, spricht ja eben nicht gegen das Vorhandensein der Freiheit selbst.Ich empfinde es durchaus als befreiend, dass ich nicht an eine Karriere, einen Lebensstil oder ein Land gebunden bin, sondern mich immer wieder umentscheiden kann. Dazu muss man natürlich irgendwie selbst flexibel bleiben, zur Weiterentwicklung bereit sein und auch den Mut haben, mal unbequeme und unsichere Wege zu beschreiten. Man muss bereit sein, mit der Freiheit auch scheitern zu können. Und selbstverständlich muss man sich auch begrenzen können und irgendwo selbst zur Konzentration finden. Das ist nicht einfach, aber es ist kein gutes Argument zu sagen: Ich bin zu bequem und zu ängstlich, meine Freiheit zu nutzen und dadurch stresst mich diese Freiheit. Böse Freiheit.
Optimierung oder Exzellenz?
Thea Dorn fragt völlig zurecht, ob hier nicht einfach alles von Han über einen Kamm geschert wird. Was spricht dagegen, sich weiter zu entwickeln, besser zu werden, in dem, was man tut. Warum sollen wir nicht neues lernen, unsere Horizonte erweitern. Das muss ja kein Zwang sein und wir müssen es nicht als Optimierung unserer Selbst an einer gesellschaftlichen Norm entlang angehen, sondern als Exzellenzentwicklung, an der Entfaltung unserer eigenen Potenziale. Und dabei sollte man sich eben nicht stressen lassen, sondern sich Zeit nehmen, seine eigenen Lebensthemen zu entdecken, an ihnen dran zu bleiben und darin richtig gut zu werden. Klar verlangt das ein anderes Verständnis von uns selbst, als einfach nur beim Ankommen auf Arbeit das Hirn an den Haken zu hängen und abends zu Hause auf der Couch fern zu sehen. Wer sich von seinem Anspruch an sich selbst gestresst fühlt, der sollte auf sich hören und seinen eigenen Ansprüchen nachgehen, anstatt rumzuheulen, dass der gesellschaftliche Optimierungswahn von ihm so viel verlangt.Freiheit von, Freiheit zu und Freiheit in
Die Freiheitsbegriffe von Dorn und Han unterscheiden sich in einem Punkt: Thea Dorn hält fest an einem klassischen Begriff, der von der individuellen Freiheit (der Freiheit von Unterdrückung, der Freiheit zu Selbstbestimmung) ausgeht, während Han ein neues Konzept etablieren möchte, die Freiheit in. Damit meint er, dass Freiheit immer nur in Beziehungen denkbar ist:Für mich ist Freiheit weder "Freiheit von", noch "Freiheit zu", sondern "Freiheit in" - also Freiheit in einer gelungenen Beziehung.
[...]
Ich versuche, das Konzept der Freiheit neu zu denken, weil wir ganz unbestreitbar in einer Krise der Freiheit sind: Heute erzeugt die Freiheit - als Gegenteil des Zwanges - selbst Zwänge in Form von Leistungs- und Optimierungszwang. Äußere Zwänge, von denen das Individuum glaubt sich befreit zu haben, setzen sich fort als innere Zwänge. Das Projekt, als Nachfolger des unterworfenen Subjekts, zeigt sich damit selbst als eine Zwangsfigur.
[...]
Solange sich jeder als Unternehmer seiner selbst begreift, entsteht kein gelingendes Miteinander. Wir brauchen daher einen umfassenden Gegenentwurf, der nicht mehr vom Einzelnen her denkt, sondern nach den Bedingungen des gelingenden Miteinanders fragt. Wir brauchen also einen neuen, fundamental anderen Begriff der Freiheit, der Begriff der individuellen Freiheit hat uns in die Sackgasse geführt.
Wer möchte schon etwas dagegen sagen, dass Freiheit nur unter "Bedingungen des gelingenden Miteinanders" möglich ist? Der individuelle Freiheitsbegriff hat aber auch im Miteinander seine Relevanz, wenn er nicht als egoistischer Freiheitsbegriff verstanden wird. Die Idee der individuellen Freiheit als gescheitert anzusehen, weil ihre Realisierung anspruchsvoll ist und dem Individuum einiges abverlangt, finde ich voreilig. Der Ruf nach einem großen schützenden Überbau, in dessen Sicherheit die Freiheit für alle geschaffen wird, ohne dass man sie sich selbst erarbeiten muss, finde ich zu gemütlich gedacht. Da halte ich es doch eher mit Thea Dorns neuem Alltagsheroismus:
Ich habe [...] große Sympathie für jeden, der sagt: Raus aus dem Hamsterrad! aber erst dann wird es ja interessant. Warum will ich das Hamsterrad verlassen, was fange ich mit meiner Zeit, meinem Leben an? Es kann doch nicht um die Ausdehnung der Wellness-Zone gehen, wie wir es ohnehin schon erleben. Wir müssen wieder lernen, aus innerem Antrieb leidenschaftlich nach etwas zu streben, um Ziele zu ringen, die größer sind als der Neuwagen oder die neue Nase, nur das gibt dem Leben Konzentration und Dichte. Anstelle des x-ten Karriere- oder Work-Life-Balance-Ratgebers sollten wir lieber Goethes "Faust" lesen.
*Alle Zitate aus Philosophie Magazin Nr. 06/2013, S. 59 - 63.
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Ich verstehe Byung-Chul Hans Veranlassung nicht, den Freiheitsbegriff neu zu denken, und sehe auch keinen Grund dazu. Ich sehe auch keine Krise und auch kein Paradoxon.
AntwortenLöschenEs hat sich nichts geändert. Zugegeben, wir leben freier als zu jeder anderen Zeit. Und dadurch, dass die Freiheit für uns heute deutlich selbstverständlicher ist als früher, bringen wir sie gleichzeitig in Gefahr - weil wir eben gar nicht mehr sehen, dass sie auch fehlen könnte. Das animiert nicht gerade, für sie zu kämpfen.
Positiv ausgedrückt bedeutet das aber auch, dass wir nicht so viel Zeit investieren müssen, Freiheit durchzusetzen. Wir können uns anderen Dingen widmen, als noch die Freiheitskämpfer vor uns. Hier sehe ich das Gegenteil einer Krise und erkenne eindeutig "Freiheit von" und "Freiheit zu".
Desweiteren hast Du auch schon einige Dinge genannt, in denen wir eben noch lange nicht frei sind (Kindheit, Schule, Chef, ...). Ich möchte da besonders auch die von Frau Dorn genannte "neue Nase" hervorheben, die mit der Zeit zu einem Zwang werden wird. In diese Kategorie des Gruppenzwangs gehört z.B. auch die Beinahe-Notwendigkeit zur Teilnahme an elektronischen "sozialen Netzwerken". Dies sind neuartige, sich weiter verschärfende Mechanismen, die die althergebrachte "Freiheit von" und "Freiheit zu" faktisch beschränken.
Hier ist Kämpfen notwendig! Ganz so, wie es immer war.
"Zum anderen schlägt die Freiheit in ihr Gegenteil um, wenn sie vor allem für uns bedeutet, endlos viele Wahlmöglichkeiten zu haben. Das paralysiert uns, wir kapitulieren vor den zahllosen Möglichkeiten und verharren dort, wo es den geringsten Widerstand gibt. (G. Dietrich, Das Paradox unserer Freiheit (2013)."
AntwortenLöschenDiese zahllosen Möglichkeiten boten sich doch auch vielen Generationen vor uns. Wir sollten die Schritte der Evolution nicht unterschätzen - die Menschheitsgeschichte hat in JEDER ZEIT vor ENTWICKLUNGSSCHRITTEN gestanden - DARAN hat sich bis heute nichts geändert - und nun "UNSER HEUTIGES FREIHEITSKONZEPT auf einen SOCKEL zu heben fände ich sehr überzogen und allzu unüberdacht.
"Ich empfinde es durchaus als befreiend, dass ich nicht an eine Karriere, einen Lebensstil oder ein Land gebunden bin, sondern mich immer wieder umentscheiden kann. Dazu muss man natürlich irgendwie selbst flexibel bleiben, zur Weiterentwicklung bereit sein und auch den Mut haben, mal unbequeme und unsichere Wege zu beschreiten. Man muss bereit sein, mit der Freiheit auch scheitern zu können. Und selbstverständlich muss man... (G. Dietrich, Das Paradox unserer Freiheit (2013)."
Ach herjeminee MUSS MAN - DAS ist eine egozentrierte Auffassung und gänzlich falsche Beschreibung, wenn es doch um Gesellschaft geht. Das beschreibt eine miefige Mischung aus Angekommen sein wollen mit der Option auf Freiheit im "schlechteren Sinne". Da macht der Freiheitsbegriff eingebettet in Gesellschaft ja überhaupt keinen Sinn mehr. DAS IST EIN KATEGORISCHER FEhler. Die Option der Freiheit ist ein gesellschaftliches Anliegen, kein egomanes - wenn es denn hier als Wichtigkeit behandelt wird.
"Ich habe [...] große Sympathie für jeden, der sagt: Raus aus dem Hamsterrad! aber erst dann wird es ja interessant. Warum will ich das Hamsterrad verlassen, was fange ich mit meiner Zeit, meinem Leben an? Es kann doch nicht um die Ausdehnung der Wellness-Zone gehen, wie wir es ohnehin schon erleben. Wir müssen wieder lernen, aus innerem Antrieb leidenschaftlich nach etwas zu streben, um Ziele zu ringen, die größer sind als der Neuwagen oder die neue Nase, nur das gibt dem Leben Konzentration und Dichte. Anstelle des x-ten Karriere- oder Work-Life-Balance-Ratgebers sollten wir lieber Goethes "Faust" lesen (G. Dietrich, Das Paradox unserer Freiheit (2013)."
Wir müssen nicht Goethes Faust lesen um uns unserer selbst bewusst zu werden, wir sollten vielmehr in größeren, wenn uns auch fremden und abstrakten Kategorien denken lernen. Viele in einem Land wissen innerhalb von Europa noch nicht mal in welchem politischen Gebilde sie sich befinden - wir sollten vielmehr unseren Blick schweifen lassen, offen halten für jedes Gegenüber -dann ist alles noch wahnwitziger Weise überproportional NORMAL.
Meine eigentliche Aussage - : Die Begrifflichkeit der Freiheit außerhalb von gesllschaftlichen Stukturen zu ergründen, auf eine einzelne Person herunterzubrechen, macht wenig Sinn - schlecht oder recht befinden wir uns als Induviduum in einem Garten von Kulturen, mit dem wir uns im alltäglichen Leben auseinandersetzen MÜSSEN. Den Irrglauben zu verbreiten, jeder hätte die Wahl zwischen was auch immer da angedacht in diesem Artikel, fände ich als Überhebung - und das versuchten ja so einige in unserer geschichtlichen Vergangenheit.
AntwortenLöschenZitat : "Es ist ganz klar, dass wir politisch-gesellschaftlich gesehen in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte hin zu freiheitlichen Gesellschaften gemacht haben. Das gilt besonders für Europa und Nordamerika, ..."
AntwortenLöschenAlso da ist der Autor wirklich nicht auf dem aktuellen Stand - einfach mal in
http://www.heise.de/thema/%C3%9Cberwachung
reinlesen.
Ich kann nicht ganz erkennen aus den Ausschnitten, ob die beiden Koryphäen sich zu Anfang ihrer Diskussion darauf verständigt haben, über welche Freiheit sie reden. Die Statements scheinen mir eine Gemengelage zwischen individueller und kollektiver Freiheit, Autonomie des Subjekts, bürgerlichen Freiheitsrechten, Selbstentwurf und Gesellschaftsentwurf zu sein. Dadurch sagt niemand etwas ganz Falsches, aber es bleibt alles im ungefähren Diskurs stecken. Sie hätten differenzieren sollen. Oder bringt das ganze Gespräch mehr?
AntwortenLöschenSehr schön gedacht, geschrieben und Ja!
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