Wie kommt es zu einer geglückten Biographie?
"Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler.
Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden
des Lebens auch ein wenig 'weil' und 'damit' hineingeknüpft wird, so verabscheuen
sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander
von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den
Eindruck, daß ihr Leben einen 'Lauf' habe, irgendwie im Chaos geborgen."
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften
Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden
des Lebens auch ein wenig 'weil' und 'damit' hineingeknüpft wird, so verabscheuen
sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander
von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den
Eindruck, daß ihr Leben einen 'Lauf' habe, irgendwie im Chaos geborgen."
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften
In der Rückschau mag unser bisheriges Leben eine Art Sinn ergeben. Meine imaginäre Freundin Sabine zum Beispiel: Als Kind hat sie sich für Tiere interessiert, dann war sie in der Schule gut in Naturwissenschaften, hat später Meeresbiologie studiert, dann ein Auslandssemester an der University of Southampton verbracht, wo sie ihren Partner kennengelernt hat. Dann Karriere, Familie, Haus und Garten. Der Rest ist Geschichte, wie man so schön sagt. Das sieht doch aus wie geplant. Da führt eines zum anderen. Ein schöner Lebenslauf.
An jedem Tag kann ein Zufall das ganze Leben ändern (Bild von Viewminder via Flickr CC) |
Identität zwischen Planung und Zufall
Diese Konstruktion der Sinnhaftigkeit ist jedoch nur im Nachhinein möglich. Nichts von all dem war absehbar. An jedem Tag in Sabines Leben hätte ein Zufall oder eine Entscheidung aus einer Laune heraus das ganze Leben in eine andere Richtung lenken können. Millionen andere Sabine-Biographien sind vorstellbar. "Das ist wohl die Struktur der meisten Biographien", sagt der Philosoph und Biologe Hans-Jörg Rheinberger im Philosophie Magazin.Man baut sich etwas auf, und damit ergeben sich Plateaus, von denen aus Optionen für den nächsten Schritt überschaubar werden, man trifft gewisse Entscheidungen und betritt damit ein neues, teilweise unbekanntes Land, ohne die getroffenen Entscheidungen im eigentlichen Sinne rückgängig machen zu können. Ein Lebenslauf ist also eine autopoetische, eine sich selbst im Verlauf erzeugende Bewegung.*
Warum aber laden wir rückwirkend unseren Lebenslauf mit einer Sinnhaftigkeit auf, die scheinbar Schritt für Schritt erarbeitet wurde? Ist es ein kultureller Zwang, der uns einen Plan fürs Leben abverlangt? Bei Bewerbungsgesprächen ist es beinahe unverzichtbar, dass man so tut, als habe man spätestens seit dem Abitur zielgerichtet an seiner durchgeplanten Karriere gearbeitet, die nun zwangsläufig zu dieser Bewerbung geführt hat. Großer Quatsch! Es ist mehr eine Mischung aus Zufall, Persönlichkeit und Erziehung als zielgerichtete Arbeit oder gar so etwas wie Schicksal, das für unseren Weg verantwortlich ist.
Außer der gesellschaftlichen Norm, gibt es aber noch einen guten psychologischen Grund, diese Sinnhaftigkeit im Nachhinein in Anspruch zu nehmen: Wir versichern uns so unserer eigenen Identität. Es wäre schwer uns als ein Bündel aus Zufällen und gesellschaftlichen Umständen zu akzeptieren. Wir wollen ein Mindestmaß an Kontrolle und Eigenbestimmung, wenn es darum geht, wer wir selbst sind.
Den Zufällen den Weg bereiten, so wunderbar auf den Punkt gebracht!! Das wird jetzt "mein" Wort: Serendipität https://t.co/znhliwLNMB
— Katharina Daniels (@DanielsOnFly) December 1, 2015
Das Glücken des Lebens mit Serendipität
Interessant ist genau dieser schmale Grad zwischen dem, was wir selbst wollen und vielleicht sogar planen und den Umständen und Bestimmtheiten, denen wir unterworfen sind:Mich interessieren vor allem Ereignisse und Einsichten, die sich zwar einstellen, aber ohne dass man gezielt darauf hätte zugehen können, die einem andererseits aber auch nicht einfach über den Weg laufen oder einem rein passiv widerfahren. In den vergangenen Jahrzehnten ist für diese Dynamik der Begriff der Serendipität geläufig geworden. Das Glücken, das damit gemeint ist, ist gerade kein purer Zufall, sondern beruht eher auf in die Wege geleiteten Zufällen.*
Ich sage zum Beispiel gern, dass mir viel Glück im Leben widerfahren ist und dabei der Zufall eine große Rolle gespielt hat. Dabei muss ich immer daran denken, wie ich im Literatur- und Philosophiestudium eher zufällig in ein Seminar ging, in dem neue Technologien der Textkodierung ausprobiert wurden. Ich war immer ein sehr stiller Student, der viel beobachtet und gelesen hat, aber nur selten was sagte. Trotzdem förderte die Professorin, die dieses Seminar leitete, mich aktiv und besorgte mir sogar die Möglichkeit, an der Brown University in den USA zu studieren. Sie sagte zu mir immer, das sei meine eigene Leistung gewesen, ich selbst habe das aber nie so empfunden. Man braucht diese Gönner und Förderer im Leben, aber sie kommen nicht von ganz allein, man selbst muss - bewusst oder nicht - die Situationen herstellen, in denen diese Gönner und Förderer Zugang zu einem bekommen könen.
Ähnliches gilt für die Zufälle, die erst einmal unglücklich zu sein scheinen, weil etwas mißlingt. Die Menschheitsgeschichte voll von solchen glücklichen Fehlschlägen. Zum Beispiel sind viele Nahrungsmittel, man denke an Käse oder Bier und Wein, nur dadurch entstanden, weil ihre Zutaten schlecht wurden. Ein Unglück eigentlich, dass dann aber produktiv und zum Wohle der Zukunft genutzt wurde. Dieses Glück im Unglück gibt es auch in der Entdecker- und Wissenschaftsgeschichte - sei es Kolumbus Ankunft in Amerika, die Entwicklung des Klettverschlusses, die Erfindung des Teebeutels oder die Entdeckung von Röntgentsrahlung, Viagra und Penicillin - und in unser aller Leben zuhauf.
Serendipität bedeutet im Kern, dieses Pech produktiv werden zu lassen und dem jeweiligen Unternehmen eine neue, unerwartete Wendung zu geben. Das ist, wisschenschaftlich wie auch lebensweltlich, die eigentlich interessante Struktur: Sich auf einen nach vorne offenen Horizont orientieren, ohne antizipieren zu können, an welcher Stelle man sich nach einer gewissen Zeit befinden wird.*
Den Zufall ins Leben lassen
Was lernen wir daraus für das Glücken unseres eigenen Lebens? Ich denke, wir tun gut daran, nicht alles bis ins Kleinste kontrollieren zu wollen, ohne aber die Zügel ganz schleifen zu lassen. Ein gewisses Wollen gepaart mit einer Kunstfertigkeit, einem Können in den Dingen, die uns wichtig sind plus Krativität und die Offenheit für Zufälle und glückliche Umstände. Wir müssen gewillt sein, das Glück auch unvorhergesehen ins Leben treten zu lassen. Mit umfänglicher Planung und Kontrolle werden wir jeden Zufall - der sich mit etwas Offenheit hinterher als Glück erweisen könnte - nur als Störung und Enttäuschung empfinden, weil der Plan nicht aufgeht und die Kontrolle sich als Illusion herausstellt. Wenn uns das nächste Mal irgend ein unvorhergesehenes Missgeschick passiert, dann lasst uns einfach mal geduldig abwarten, was sich daraus für unser Leben entwickelt. Ich wette, dass es sich in vielen Fällen als Glück herausstellt.*Alle Zitate aus Philosophie Magazin Nr. 5 / 2013
Das sollte Sie auch interessieren:
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen