6. Dezember 2012

Reiss Profile: Ein Motiv kommt selten allein

Leben und schreiben mit dem Reiss Profile

Eva-Maria Oberauer, freie Onlinetexterin, Schriftstellerin, ausgebildeter Coach und Reiss Profile Master, untersucht für uns, was sowohl fürs Leben als auch für die Literatur am Reiss Profile dran ist. Als Ellen Dunne hat sie den Roman Wie Du mir veröffentlicht und sich dort mit Werteterror und zugespitzten Motivationen ausgetobt.

Hach, waren das noch Zeiten. Im Streit über die unterschiedlichen Definitionen von Ordnung dem Partner ein pauschales "So bin ich eben" entgegenrotzen. Im Job mit einem Schultertätscheln oder einer Gehaltserhöhung "motiviert werden". James Bonds stoische Unverwundbarkeit in allen Lebenslagen bewundern. Vorbei!

Jetzt stehen wir einander an den Spitzenpositionen der Maslow'schen Bedürfnispyramide auf den Füßen, der Partner will nicht mehr so recht in die alten Rollenschablonen passen, und James Bond schießt wegen posttraumatischem Stress-Syndrom daneben. Ja, die Welt ist eindeutig komplexer geworden. Wir haben begonnen, dem vermeintlich Klaren, Vordergründigen zu misstrauen und suchen gleichzeitig nach einer Landkarte, wollen Beweggründe, Motivation verstehen – in der Realität genauso wie in der Fiktion.

Anton Chigurh in No Country for Old Men
Realität und Fiktion: Was treibt Charaktere an? Z.B. 007 oder Anton Chigurh in No Country for Old Men

16 Lebensmotive, die uns alle antreiben
In meiner beruflichen Laufbahn und während meiner Ausbildung zum Coach habe ich viele interessante Persönlichkeitsprofile kennengelernt. Aber keines hat mir die Augen so geöffnet wie das Reiss-Motivations-Profil (RMP), sowohl für mich selbst, meine Partnerschaft und Mitmenschen als auch die Charaktere in meinen Romanen.

Macht. Unabhängigkeit. Neugier. Anerkennung. Ordnung. Sammeln. Ehre. Idealismus. Beziehungen. Familie. Status. Rache/Wettkampf. Sex. Essen. Bewegung. Emotionale Ruhe. Das klingt nicht umsonst nach Shakespeare. Laut Steven Reiss, emeritierter Professor der Psychologe an der Ohio State University und Vater des RMP, sind dies die 16 "grundlegenden Bestrebungen, von denen wir uns im Leben leiten lassen".* In welchem Ausmaß uns diese Lebensmotive antreiben, ist individuell sehr unterschiedlich. Während zum Beispiel ein stark machtmotivierter Mensch es genießt, andere zu führen und Entscheidungen zu treffen, strebt das Gegenüber mit schwach ausgeprägtem Machtmotiv danach, Teil eines Teams zu sein und sich führen zu lassen. Während der stark Neugierige neues, gerne auch theoretisches Wissen und abstrakte Gedankenspiele liebt, hat der schwach Neugierige Freude an der praktischen Umsetzung von Wissen. Beides völlig "normale Persönlichkeitstypen", wie es Reiss ausdrückt, und eine wunderbare Ergänzung füreinander. Eigentlich.

Je extremer das Motiv, desto enger der Tunnelblick
Ein für mich besonders interessanter Aspekt ist die sogenannte "Selbstumarmung" (Self Hugging), zu die wir Menschen laut Reiss neigen. Diese Annahme, dass unsere eigenen Motive die "richtigen" und besten sind – und zwar nicht nur für uns, sondern auch für alle anderen. Je extremer die Ausprägung des Motivs (sowohl stark als auch schwach), desto unmöglicher wird es uns, die Beweggründe des anderen zu verstehen oder überhaupt zu sehen: "Arbeite nicht so viel!" "Sei endlich ordentlicher!" "Du musst mal unter die Leute!"

Diese Spirale endet oft im von Reiss so drastisch ausgedrückten "Werteterror", mit dem wir beharrlich versuchen, unsere Partner/Kinder/Kollegen davon zu überzeugen, dass deren Glück in unserer Lebensanschauung liegt. Trotz meiner schon immer recht ausgeprägten Neigung zur Selbstanalyse, hat mir mein Motivationsprofil einen ganz neuen Blick auf eigene Verhaltensweisen sowie immer wiederkehrende Dynamiken in meiner Partnerschaft erlaubt. Ein teilweise wahrlich aufrüttelndes Aha-Erlebnis.

Von runden Charakteren und starken Motiven
Als Autorin von Spannungsromanen brauche ich zum Glück weniger Selbsterkenntnis als im alltäglichen Leben. Schließlich geht es um Spannungsauf- und nicht -abbau! Hier wütet gnadenlos der Werteterror, extrem ausgeprägte Motive und das dadurch resultierende gegenseitige Unverständnis der Figuren stehen einer gütlichen Lösung im Weg.

Klar – ohne Konflikt keine Story. Doch auch hier liefert mir das Reiss Profile genug Inspiration für 1001 Plotideen. Und auch Charaktere erhalten anhand des unendlichen Zusammenspiels von 16 Lebensmotiven größere Tiefe. Wie unterscheidet sich zum Beispiel ein Mörder mit hohem Ordnungsmotiv von einem mit hoher Anerkennung? Warum könnte er/sie die Tat begehen? Wie geplant, wie sichtbar ist die Tat? Dazu muss man nicht gleich den ganzen RMP-Fragebogen beantworten und bezahlen. Es genügt, sich über die Fragen des vereinfachten Tests im Buch Das Reiss Profile Gedanken zu machen. Und schon werden aus Scherenschnitten echte Charaktere in 3D.

Trotzdem - meinen guten alten, allzeit souverän weltenrettenden Cartoon-James Bond vermisse ich schon irgendwie …


*S. 45, "Das Reiss Profil" von Steven Reiss, 2009, Gabal Verlag,

8 Kommentare:

  1. Da erlaube ich mir mal einen Verweis auf meinen dieswöchigen Artikel, da habe ich nämlich zufälligerweise eben jenen erwähnten James Bond und seine Persönlichkeit analysiert:
    http://www.typentest.de/blog/2012/12/was-wir-von-geheimagenten-lernen-konnen-die-personlichkeit-des-james-bond/

    Im Reiss Profile würde ich 007 hohe Werte bei Macht(!), Status, Eros/Sex, Unabhängigkeit, körperliche Aktivität und natürlich Rache/Wettkampf zuschreiben.

    AntwortenLöschen
  2. Und eine äußerst niedrige Ausprägung der emotionalen Ruhe ;)

    AntwortenLöschen
  3. Ein vernünftiger Mensch schätzt nur die Achtung der wenigen Menschen, denen er selbst mit Hochachtung begegnet. Wenn er zufällig etwas macht, das ihm gesellschaftliches Ansehen einbringt, fühlt er sich keineswegs geehrt, sondern fragt sich etwas geniert, was er mit dem Nippes anfangen soll, der ihm dann überreicht wird. Kann er im Gegenteil mit seinem Verhalten keine Ehre einlegen, lässt ihn das kalt, weil er ebenso argumentiert wie Erasmus von Rotterdam in seinem "Lob der Torheit."
    Wirst du von einem Stein am Kopf getroffen, ist das ein reales Missgeschick.
    Aber Schande, ein schlechter Ruf, Anfeindungen und Verwünschungen, das alles berührt dich nur, wenn du empfänglich dafür bist. Besitzt du diese Empfänglichkeit nicht, sind diese Dinge auch kein Problem für dich.

    AntwortenLöschen
  4. "In meiner beruflichen Laufbahn und während meiner Ausbildung zum Coach habe ich viele interessante Persönlichkeitsprofile kennengelernt." Soll also heißen, dass es zuvor nicht möglich war, besondere Profile eines Menschen wahrzunehmen - dann lassen lasen Sie es. Ich nehme an, dass die gecoachte Version ein Fremdanregung bedeutet und sie nicht in der Lage sind einen stabilen Aufbau von Beobachtung und Verständnis zu erlangen. Natürlich ist es möglich, seine Leserschaft über Manipulation zu erhaschen - WEN BEFÖRDERT DAS?
    Ein klarer Blick auf die Dinge, von meinetwegen eine Analyse ( wie von den Coen Brothers ist mir lieb und teuer und SELTEN. Wer braucht und will in Verzweiflung gecoachte oder nach Profilen agierende Menschen?

    AntwortenLöschen
  5. Ich kann nur sagen, dieses Profile ist höchst interessant, weil es weg geht von der typischen Stärken/Schwächen-Analyse und es typologisiert auch nicht. Es zeigt jedem seine Grundbedürfnisse, die es zu berücksichtigen gilt, gleich ob man erfolgreich oder einfach nur zufrieden sein will. Ich setze es generell in Seminaren ein, in denen es irgendeiner Form um Persönlichkeit/Zielfindung geht, und ich war noch in keiner Gruppe, in der es nicht Aha-Erlebnisse gegeben hat. Es ist spannend zu sehen, "was brauche ich?" - und wie wenig Aufmerksamkeit wir diesen Dingen oft widmen.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Da stimme ich Ihnen zu, Frau Schmoll. Die Anerkennung der Individualität jedes Menschen - nicht die Zuordnung in übergeordnete Gruppen - ist für mich das Interessante an diesem Tool. Das gemeinsame Reflektieren mit einem Coach über die Ergebnisse bringt dann meiner Erfahrung nach noch einmal einen "Schub" an Erkenntnis und oft eine sehr befreiende Akzeptanz.

      Löschen
  6. Ein Reiss Profil ist für einen selbst bestimmt eine interessante Erkenntnis. In der Arbeitswelt jedoch muß/ darf die eine Partei ein Seelenstripti hinlegen und weiß doch nichts über der Partei Gegenüber.

    AntwortenLöschen
  7. Pro und Contra am Reiss Profile

    Das Reis Profile ist aus meiner Erfahrung in der Arbeit mit dem Reiss Profile seit 2003 und als Reiss Profile Master Ausbilder seit 2006 im privaten, als auch im beruflichen Kontext extrem hilfreich.

    Es gibt kein gutes, oder schlechtes Test-Ergebnis....

    Mit den Ergebnissen um die intrinsischen Lebensmotivausprägungen kann man unter Beachtung der extrinsischen Faktoren eine Menge sehr interessanter und nachhaltig wirksamer Maßnahmen initiieren, die für alle Beteiligten von hohem Nutzen ist.

    Ich empfehle, das Reis Profile selber einmal zu machen und im persönlichen 3-4 h Auswertungsgespräch auf sich wirken zu lassen.

    Die kritischen Berichte und Kommentare haben bestimmt ihre persönliche Berechtigung, sprechen jedoch auch immer für eine bestimmte kritische Grundhaltung, oder schlecht gemachte Erfahrungen, die vom Berater ausgegangen sind. Das Modell Reiss Profile kann nur so gut, seriös und wirksam sein, wie der ausgebildete Reiss Profile Coach damit umgeht.

    AntwortenLöschen

Top 5 der meist gelesenen Artikel dieser Woche